
Deutsche Geschichte, Teil 4

Die Geburt der Nation
Die französische Besatzung lässt in Deutschland ein Nationalgefühl und die Sehnsucht nach einer Identität aufkommen. Bismarck schuf die Voraussetzungen für die deutsche Einheit, wenn auch unter preußischer Führung.
Die deutsche Geschichte scheint paradox: Erst gab es rund 1000 Jahre ein Reich, aber keine Nation. Dann zu Beginn des 19. Jahrhunderts entdeckten die Deutschen ihr Nationalgefühl, diesmal fehlte jedoch ein einheitliches Staatengebilde. Nachdem Preußen 1806 unter den Kanonen des französischen Heeres zusammengebrochen war, gliederte sich Deutschland in drei Großräume: die Rheinbundstaaten als Verbündete Frankreichs, Preußen und Österreich. Ein Deutschland einig Vaterland war so weit in die Ferne gerückt, wie kaum zuvor in seiner Geschichte.
Doch je länger die Herrschaft Napoleons dauerte, umso deutlicher zeichnete sich ein Stimmungsumschwung in der Bevölkerung ab. Die Intellektuellen im Land heizten die Stimmung an. Begriffe wie Nation und Vaterland machten verstärkt die Runde und wurden regelrecht zu Parolen. Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte hielt 1807 und 1808 seine „Reden an die deutsche Nation“. Darin rief er das Volk zu den Waffen. Die Partikularisten sollten sich endlich ihrer „Deutschheit“ besinnen.
Die Sehnsucht nach einer Identität
Das waren ganz neue Töne. Aus ihnen sprach die Demütigung genauso wie die Sehnsucht nach einer neuen Identität, die durch die Fremdherrschaft verloren gegangen war. Organisationen wie der Tugendbund oder der Deutsche Bund des Turnvaters Jahn stärkten das neue Nationalgefühl.
Als Napoleon sich aus Russland zurückziehen musste, eroberte die Nationalbewegung Deutschland, die vorher nur von einzelnen Vordenkern proklamiert wurde. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. wurde mit Briefen regelrecht bombardiert, er solle endlich den Befehl zur Volkserhebung erteilen. Nach langem Zögern erklärte er am 16. März 1813 Frankreich den Krieg. Am Tag darauf folgte sein Appell „An mein Volk“. Nach den Befreiungskriegen war die Vorherrschaft Napoleons in Europa gebrochen. Europa ordnete sich 1815 mit dem Wiener Kongress neu.
Was wird aus Deutschland?
Für die Gruppierungen der Nationalbewegung war die zentrale Frage: Was wird aus Deutschland? Während des Volkskriegs gegen Napoleon schien die Stunde zur Bildung eines deutschen Nationalstaates gekommen. Doch am Ende hatte nicht die deutsche Nation gesiegt, sondern verbündete Regierungen, deren Ziel es primär war, die Macht ihrer gekrönten Häupter zu erhalten. Weder die beiden deutschen Großmächte noch die Mittel- und Kleinstaaten wollten freiwillig etwas von ihrer Souveränität zugunsten eines Staates abgeben. Zur Enttäuschung der deutschen Patrioten setzte sich deshalb nicht eine bundesstaatliche, sondern eine Staatenbund-Lösung durch. Mit dem Deutschen Bund war ein Nationalstaat unter einheitlicher Führung wieder auf Eis gelegt.
Doch die Stimmung blieb aufgewühlt. Deutschland befand sich am Beginn der Epoche des Vormärz. 1817 trafen sich die neu entstandenen Burschenschaften beim Wartburgfest, um einen einheitlichen deutschen Nationalstaat zu fordern.
Ihre Farben waren Schwarz-Rot-Gold – die Uniformfarben des Lützowschen Freikorps, in dem viele Studenten gegen Napoleon gekämpft hatten. Die Forderungen des Wartburgfestes wurden in ganz Deutschland verbreitet. Diese missfielen Fürst von Metternich, dem österreichischen Kanzler und Architekt der neuen Staatenordnung. Doch noch konnte er die deutschen Regierungen nicht zu Gegenmaßnahmen drängen.
Das änderte sich schlagartig, als 1819 der Student Carl Sand den Schriftsteller August von Kotzebue erstach, weil dieser in seinen Schriften die Ideale der Nationalbewegung verspottete. Eine Steilvorlage für Metternich. Endlich hatte er einen Vorwand, die revolutionären Umtriebe zu unterbinden. Mit den Karlsbader Beschlüssen wurde die Pressefreiheit in den Ländern des Deutschen Bundes praktisch aufgehoben. Die Nationalbewegung suchte Schutz im Untergrund, und in Deutschland herrschte wieder Ruhe – wenn auch die trügerische Ruhe eines Polizeistaates.
Die Nationalbewegung im Aufwind
Doch die Stille war nur vorübergehend. 1830 kam es – ausgelöst durch die französische Julirevolution – in mehreren deutschen Städten zu Unruhen mit Barrikadenkämpfen. Um die Situation zu befrieden, sahen sich die Fürsten gezwungen, Zugeständnisse in Form von Verfassungsänderungen zu machen. Darüber hinaus bildeten sich Landtage neu. Die liberalen Kräfte der Nationalbewegung waren wieder im Aufwind. Beim Hambacher Fest 1832 traten sie selbstsicher auf. Dies führte allerdings dazu, dass die Zensurbestimmungen nochmals verschärft wurden. Aber die Ruhe der Jahre nach den Karlsbader Beschlüssen konnten Metternich und seine Gesinnungsfreunde nicht mehr erzwingen.
Der Stimmungsumschwung war unverkennbar. Für die Anhänger der Nationalbewegung stellte sich nicht mehr die Frage, ob es zu Veränderungen kommen würde, sondern wann. Am 24. Februar 1848 siegte zum dritten Mal in Frankreich die Revolution. Die Unruhen schwappten über den größten Teil Europas. Auch in fast allen deutschen Ländern gingen die Menschen auf die Straßen. Am 18. März brach in Berlin der Aufstand aus. König Friedrich Wilhelm IV. blieb nichts anderes übrig, als das Militär abzuziehen und den Aufständischen das Feld zu überlassen. Als am 18. Mai 1848 die 585 gewählten Volksvertreter die Frankfurter Paulskirche betraten, schien der Weg zum einheitlichen Nationalstaat geebnet.
Das Scheitern der Revolution
Welche Staatsform sollte das neue Deutschland repräsentieren? Diese Frage dominierte die Debatte der Abgeordneten. Es gab zwei Alternativen: ein Großdeutschland mit Österreich unter einem habsburgischen Kaiser und eine kleindeutsche Lösung ohne die Donaumonarchie. Die Nationalversammlung verlor sich in endlosen Diskussionen ohne Ergebnis, während die Konterrevolution ihre Kräfte sammelte.
Die Abgeordneten der Nationalversammlung einigten sich im November 1848 auf eine kleindeutsche Lösung und boten dem preußischen König die deutsche Kaiserkrone an. Friedrich Wilhelm IV. war die „Schweinekrone“ des Parlaments nicht gut genug, er lehnte ab. Das war das Ende der Nationalversammlung. Von nun an diktierte die Reaktion das politische Geschehen.
Das Verhältnis zwischen Otto von Bismarck und der Nationalbewegung könnte man als Ironie der Geschichte bezeichnen: Seit seiner Ernennung zum preußischen Ministerpräsidenten im Jahr 1862 regierte er am Parlament vorbei.
„Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden, sondern durch Blut und Eisen“, äußerte er sich vor dem Abgeordnetenhaus.
Bismarck ging es vorrangig um die Machterweiterung Preußens. Doch gerade damit schuf er Schritt für Schritt die Voraussetzungen für die deutsche Einheit, wenn auch unter preußischer Führung.
Drei Kriege brauchte Bismarck bis dorthin. Mit dem Sieg im Deutsch-Dänischen Krieg und dem Friedensschluss von 1864 wurde Dänemark aus dem Deutschen Bund hinausgedrängt. Das gleiche Schicksal ereilte Österreich mit der Niederlage bei Königgrätz im Jahr 1866. Der Deutsche Bund und damit der Dualismus zwischen Preußen und Österreich gehörten der Vergangenheit an. Deutschland war ein Bundesstaat mit 22 Klein- und Mittelstaaten nördlich der Mainlinie – dominiert von Preußen.
Der Stratege Bismarck
Mit der Schaffung des Norddeutschen Bundes nahm Bismarck der national gestimmten Öffentlichkeit den Wind aus den Segeln. In Frankreich beäugte man dagegen die Veränderungen beim Nachbarn erst mit Misstrauen dann mit zunehmender Angst. Da 1870 das spanische Parlament dem Mitglied einer Nebenlinie der Hohenzollern den vakanten Thron anbot, befürchtete Frankreich eingekreist zu werden.
Selbst als die Hohenzoller auf die Kandidatur verzichteten, verlangte Napoleon III. eine umfassende Garantieerklärung, um dies für immer auszuschließen. Der preußische König, der gerade in Bad Ems weilte, lehnte ab und telegrafierte den Sachverhalt nach Berlin. Bismarck, der alte Stratege, redigierte den Text, um den Inhalt zu verschärfen, und gab die überarbeitete Fassung als „Emser Depesche“ an die Presse.
Bismarck wollte den Krieg gegen Frankreich – und er bekam ihn. Wegen der diplomatischen Niederlage und aus innerpolitischen Gründen trat Napoleon III. die Flucht nach vorne an und erklärte am 19. Juli 1870 Preußen den Krieg.Schnell wurde der preußisch-französische Krieg zu einem deutsch-französischen und damit einem nationalen Krieg.
Die Geburt der deutschen Nation in Versailles
Die Deutschen waren in Kriegslaune. Auch die süddeutschen Staaten, die nicht Teil des Norddeutschen Bundes waren, kämpften an der Seite Preußens. Zu groß war der Druck der national gesinnten Öffentlichkeit geworden, sodass den süddeutschen Fürsten gar keine andere Wahl blieb, als sich dem Norddeutschen Bund anzuschließen.
Noch vor der Kapitulation Frankreichs und dem offiziellen Friedensvertrag spielte sich am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles Epochales ab: Mit der Kaiserproklamation war ein neuer Nationalstaat aus der Taufe gehoben: das Deutsche Reich. Deutschland hatte es endlich geschafft. Deutlich später als andere Staaten wurde es eine Nation.