
Notstandsgesetze
Mit den Stimmen der großen Koalition verabschiedete der Deutsche Bundestag am 30. Mai 1968 die so genannten Notstandsgesetze.
Sowohl im Parlament als auch in der Öffentlichkeit führte diese Verfassungsänderung zu heftigen Auseinandersetzungen. Gegner sahen die junge Demokratie in Gefahr und befürchteten ähnliche politische Verhältnisse wie im Dritten Reich. Befürworter wollten, dass Deutschland in Krisensituationen als demokratischer Staat eigenständiger vorgehen konnte – unabhängig von den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges.
Ein erster Entwurf scheitert
Die Diskussion um die Notstandgesetze begann bereits mit einem ersten Entwurf des damaligen Bundesinnenministers Gerhard Schröder (CDU) im Jahre 1958. Er bezeichnete den Notstand als "die Zeit der Exekutive". Erinnerungen an das totalitäre Nazi-Regime und das damalige Ermächtigungsgesetz wurden wach und lösten bei vielen Menschen großen Widerstand gegen die Notstandsgesetze aus. Der erste Entwurf und auch die weiteren von 1960 sowie 1963, die die Rechte der Regierung sehr stark ausweiten sollten, fanden daher nicht die notwendige Mehrheit im Parlament.
Konkret sollten die Notstandsgesetze im Verteidigungsfall, bei inneren Unruhen und Naturkatastrophen die Gesetzgebungskompetenz des Bundes ausweiten. Außerdem sahen die Entwürfe vor, bei Unruhen die Einschränkung bestimmter Grundrechte, beispielsweise des Postgeheimnisses sowie den Einsatz von Bundeswehr und Bundesgrenzschutz zu erlauben. Männer können kurzfristig zum Militärdienst eingezogen und Frauen zum Sanitätsdienst verpflichtet werden.
Eine Notstandsverfassung für mehr Eigenständigkeit?
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sich die Westmächte Sonderrechte zum Schutz ihrer in Deutschland stationierten Truppen vorbehalten. Um von den verbündeten Siegermächten unabhängiger zu werden und der vollen Eigenständigkeit (Souveränität) einen Schritt näher zu kommen, musste die Bundesrepublik den Notfall gesetzlich regeln. So sollte die Notstandsverfassung Gesetze für jede Art von Notsituation bereit halten. Diese sollten ins Grundgesetz eingebaut werden. Über das "Wie" wurde zehn Jahre lang debattiert. Gegen Ende der 1960er Jahre war der Weg dann frei: Durch die Bildung der Großen Koalition rückte die nötige Zweidrittel-Mehrheit in greifbare Nähe.
Große Koalition als Ausweg aus der Krise
Am 1. Dezember 1966 wählte der Bundestag den damaligen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Kurt Georg Kiesinger (CDU), zum Bundeskanzler. Er stellte noch am selben Tag sein Kabinett, eine Koalition aus den beiden größten deutschen Parteien "Christlich Demokratische Union Deutschlands"/"Christlich Soziale Union" (CDU/CSU) und "Sozialdemokratische Partei Deutschlands" (SPD), vor. Der Koalitionswechsel innerhalb der vierjährigen Amtsdauer der Bundesregierung (Legislaturperiode) und die Bildung der Großen Koalition war zur Überwindung der wirtschaftlichen und finanzpolitischen Krise gedacht.
"SPD und CDU: Lasst das Grundgesetz in Ruh!"
In den 1960er Jahren gipfelten die Aktivitäten der Bürgerbewegung im Kampf gegen die Notstandsgesetze. Der Verabschiedung der Gesetze gingen massive Proteste voraus. Vor allem die Gewerkschaften, Studenten und das Kuratorium "Notstand der Demokratie" befürchteten, dass der Staat durch die Notstandsgesetze diktatorische Züge erhalte. Die politisch denkende Jugend sah die Verfassung und Gesetze nicht mehr als Instrumente zum Schutz der Bürger, sondern als Machtmittel einer bürgerfernen und autoritären Staatsgewalt. Gerade nach den tödlichen Polizeikugeln auf Benno Ohnesorg schien sich diese Auffassung zu bestätigen. Die aus Bürgerinitiativen entstandene "Außerparlamentarische Opposition" (APO) rief zu Protesten und Massenkundgebungen auf. Protestaktionen mit Sprechchören wie "SPD und CDU: Lasst das Grundgesetz in Ruh!" brannten sich in die Köpfe der Bevölkerung ein. Beim "Sternmarsch auf Bonn" am 11. Mai 1968 im Bonner Hofgarten bezogen auch so prominente Gegner wie Heinrich Böll gegen die Notstandsverfassung Position. Laut Polizeischätzungen nahmen etwa 22.000, nach Angaben der Veranstalter bis zu 60.000 Menschen teil. Doch der Protest half nichts: Am 30. Mai 1968 verabschiedete der Deutsche Bundestag mit einer Zweidrittel-Mehrheit die Notstandsgesetze.

Das Kabinett Kiesinger

Die APO zerfällt
Die Einführung der Notstandsgesetze leitete den Zerfall der "Außerparlamentarischen Opposition" (APO) ein. Denn einer der wesentlichen Kristallisationspunkte der APO war, neben den Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg und atomare Aufrüstung, der Kampf gegen die Verabschiedung dieser Gesetze. Die APO zersplitterte in eine Vielzahl verschiedener Gruppen, einige ihrer Anhänger gingen zur SPD zurück, manche schlossen sich maoistischen Gruppen an, andere gründeten terroristische Vereinigungen.
Die Notstandsgesetze sind immer noch in Kraft. Heute, fast 40 Jahre nach ihrer Verabschiedung, betrachten die meisten Menschen sie nüchterner und bringen sie nicht mehr mit einer Unterwanderung der Demokratie in Verbindung. Die Notstandsregelung in der Bundesrepublik ist eine der ausführlichsten in Europa.